Wiener Leben
Der kleine Junge läuft barfüßig mit einer viel zu großen Tasche durch die Gutenberggasse am Spittelberg im 7. Bezirk. Wahrscheinlich lebt er in dieser dichtbebauten Wohngegend und verdient ein paar Heller mit Botengängen. Die Gutenberggasse verläuft von der Siebensterngasse bis zur Burggasse, die im Hintergrund des Fotos zu sehen ist. Der Spittelberg ist um 1915 eine der ärmsten Wohngegenden in Wien und übel beleumundet noch dazu: vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ist er das Rotlichtviertel von Wien. In fast jedem Haus befindet sich eine Wirtschaft, in deren Extrazimmer Liebesdienerinnen arbeiten. Das Milieu am Spittelberg ist damals – zumindest in der Nacht und glaubt man den Schilderungen – aber auch sehr „bunt“: neben den Bordellen wird Theater gespielt, Gaukler und Straßenkünstler treten auf und Sängerinnen singen die deftigen „Spittelberglieder“. Wie zum Beispiel diesen Vierzeiler, einer der auf einem Jugendfrei-Blog gerade noch Zitierfähigen aus dieser Sammlung derber erotischer Volkskunst:
„Fiaka, Fleischhacka,
Ziegeldecka, Pflastara
und sieben Maurapolier
san alle gangen zu ihr.“
Der Spittelberg steht bei aller Armseligkeit auch für Bohemienleben und ist eine Facette des Wiener Leben im 18. und 19. Jahrhunderts. Mit dem Ersten Weltkrieg ist es mit dem Rotlicht vorbei. Was bleibt, sind verfallende Häuser mit unerträglich schlechter Wohnqualität für viel zu viele Menschen. Die Pläne, das Areal Anfang der 1970er Jahre durch einen riesigen Zinshauskomplex zu ersetzen, werden fallengelassen und das Viertel 1973 zur Schutzzone erklärt. Dies wird durch massive Gegenwehr von Denkmalschützern, Grätzel-Enthusiastinnen gemeinsam mit der alternativen Szene durchgesetzt, Hausbesetzungen inklusive. In der Folge erwirbt die Gemeinde Wien einige Gebäude, die renoviert und revitalisiert werden. In den 1980 Jahren ist die Gentrifizierung des Spittelbergs abgeschlossen und neuer Wohnraum für betuchtere Bewohner und Bewohnerinnen geschaffen. Der Spittelberg ist allerdings bis heute ein Wiener Ausgehviertel: die vielen Lokale mit ihren Schanigärten, die Fußgängerzonen, der Klassiker Amerlinghaus, Kunstgalerien, der Spittelberg-Weihnachtsmarkt und natürlich die bezaubernden Biedermeier- und Barockhäuser laden das ganze Jahr über zum Besuch ein.
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